Die Albtraum-Nachbarn

Zwischen 1985 und 1995 hatte Thailand die höchste Wachstumsrate der Weltwirtschaft, fast 9 % pro Jahr. Dies erhöhte den spekulativen Druck auf die lokale Währung, den Baht. 1997 trieben Spekulanten die Währung in eine Krise, der nach und nach mehrere asiatische Staaten (sog. ‚Tigerstaaten‘) zum Opfer fielen und zu einer dramatischen aber kurzfristigen Schrumpfung des Wachstums führte…

Sie waren Weltspitze im Wachstum und stürzten dann in die Rezession: Jetzt bekämpfen Thailand und Malaysia ihre dramatische Wirtschaftskrise mit gegensätzlichen Konzepten – und beäugen sich mißtrauisch. Schaden die Rezepte aus dem Westen?Ein paar Wechselstuben, einige schäbige Spielhöllen und zwei Dutzend Massagesalons, vor denen grellgeschminkte, miniberockte Mädchen herumlungern und jeden anmachen, der von „drüben“ kommt, aus Malaysia: Der kleine thailändische Grenzort Padang Besar ist spezialisiert auf Dienstleistungen der besonderen Art. „Sexy Girl“, „Big Boss“, „Golden Gate“ heißen die Etablissements.

Der Name des neuesten Stundenhotels fällt aus dem Rahmen – „Berlin“. Und doch macht die Bezeichnung für jeden Sinn, der einmal durch den Ort gefahren ist. Es gibt eine augenfällige Parallele zwischen der europäischen Metropole und dem südostasiatischen Kaff. Hier im Dschungel, fernab der nächsten Großstadt, wurde gerade Stein für Stein aufgerichtet, was in Deutschland als Symbol der Spaltung abgerissen ist: die Mauer.

23 Kilometer lang zieht sich der merkwürdige Grenzwall hin, 2,40 Meter hoch, durchgehend mit Stacheldraht abgedeckt. Die Mauer beginnt unmittelbar am Ortsrand und zerschneidet sogar einige bebaute Grundstücke, bevor sie sich einen Feldweg entlangwindet, dann in Dschungelgebiet verliert und über Kalksteinklippen Richtung Andamanensee abfällt – eine silbrigglitzernde, schlängelnde Beton-Python in der Tropensonne.

Malaysia hat den Wall in den letzten zwei Jahren mit einem Kostenaufwand von 30 Millionen Mark errichtet, gegen die wütenden Proteste der thailändischen Regierung, die Anfang 1998 Armeehubschrauber im Tiefflug über die Grenzbefestiger patrouillieren ließ. „Wir mußten die Barriere bauen, weil immer mehr illegale Einwanderer, Drogen und Waffen eingesickert waren“, behauptet der malaysische Chefminister Shahidan bin Kassim. Die Mauer und verstärkte Kontrollen hätten die Situation schon heute erkennbar verbessert.

Es gibt keine Minen, keinen Todesstreifen à la DDR; über 400 Kilometer gemeinsame Grenze sind unbefestigt. Doch die Mauer zwischen den beiden Nachbarn ist mehr als ein physischer Schutzwall, sie ist zementierte Entfremdung, ein Sinnbild: Sie trennt zwei Staaten, die in Organisationen wie dem Regionalbund Asean formal zusammenarbeiten, aber in Wirklichkeit verschiedene Wege gehen – Thailand und Malaysia sind Gegenpole.

Auf der einen Seite steht eine vom Buddhismus geprägte, sexuell freizügigere Gesellschaft, auf der anderen eine moralisch strenge muslimische Gemeinschaft. Bangkok bevorzugt demokratische „westliche“ Spielregeln, Kuala Lumpur beharrt auf autokratischen „asiatischen“ Werten, dem angeblich überlegenen eigenen Weg.

Jahrelang waren tiefgreifende Unterschiede von gemeinsamen Erfolgsmeldungen überdeckt worden: Thailand wie Malaysia gehörten mit Zuwachsraten von durchschnittlich sechs bis neun Prozent pro Jahr zu den Weltbesten im Wachstum. Mitte 1997 stürzten sie, wie fast ganz Asien, in eine unerwartete, tiefe Krise. Aus den beneideten Vorbildern wurden Nachbarn im Alptraum. 1998 schrumpfte die Wirtschaft der beiden um jeweils über sechs Prozent, nur in Indonesien ging es noch schneller bergab. Tausende Firmen mußten Bankrott anmelden, Millionen Arbeitslose stehen, mit unzureichender Absicherung, auf der Straße.

Die Thais und die Malaysier setzen bei der Bekämpfung der Misere auf gegensätzliche Konzepte. Bangkok gibt den „Musterpatienten des Internationalen Währungsfonds“ (IWF), so die britische Zeitschrift „Economist“, und öffnet seine Märkte, so weit, so schnell, daß manche im Land schon die Gefahr eines nationalen „Ausverkaufs“ wittern; Kuala Lumpur (KL) schottet sich mit Kapitalkontrollen ab, verärgert Investoren, provoziert mit rüden Schuldzuweisungen den Westen.

Versuchslabor Fernost: Die Betroffenen experimentieren – und beäugen einander mißtrauisch. Der Rest der Welt beobachtet die Entwicklung gespannt, denn neue Krisenherde, neue Flüchtlingsströme könnten auch ihn bedrohen. Wer hat das bessere Konzept und wird damit bei der nächsten Finanzkatastrophe zum Vorbild? Hilft eher Abschottung oder Angleichung, Mauer oder unbeschränkte Durchlässigkeit?

Samstag abend gegen sechs, wenn in der Jamek-Moschee der Muezzin das Ende des Gebets verkündet, schlägt in der malaysischen Hauptstadt die Stunde der Demonstranten. Es ist ein merkwürdiger Haufen, der sich da im Stadtteil Kampung Baru zusammenrottet: junge Männer in Jeans, den Walkman-Knopf mit ihrem Lieblingskampflied im Ohr – „Street Fighting Man“ von den Rolling Stones; bärtige Mullahs im weißen Flattergewand, den Koran unterm Arm; züchtig gekleidete ältere Frauen; Teenies mit wallendem Haar und Glitzerkleidern, die aussehen, als kämen sie gerade aus der Disco.
Spruchbänder werden enthüllt, Forderungen skandiert, alle geprägt von dem einem Wort, das zum Markenzeichen der Demonstranten geworden ist: „Reformasi – Reformen!“ Und noch ein Ruf hallt durch Kampung Baru: „Resign Dr. M. – Treten Sie zurück, Herr Regierungschef!“

Als hätten sie zwischen Tradition und Moderne noch nicht ihren Platz gefunden, wirken auch die Gebäude der Umgebung. Da ducken sich neben der mächtigen Moschee schäbige Steinhäuschen, die letzten Überreste einer vergangenen Zeit. In den engen Gassen braten Marktfrauen Satay-Spießchen und preisen frisch kandierten Zucker an, wie früher im wirklichen „Kampung“, dem malaiischen Dorf.

Doch direkt dahinter türmt sich der Fortschritt im Weltrekordformat: ein stahlstrotzender Spargelwald mit dem Doppelwolkenkratzer Petronas Towers, dem höchsten Gebäude der Welt (452 Meter, und oft vom Smog verhüllt); dem Menara-Fernsehturm (421 Meter); den Marriotts, Mandarin Orientals, Shangri-Las und all den anderen pompösen Turmbauten zu Kuala Lumpur. Die neueren Hotels stehen bis zu 80 Prozent leer, allein in den letzten 18 Monaten eröffneten in der Hauptstadt ein halbes Dutzend Luxusherbergen, innerhalb eines Jahrzehnts hat Malaysia seine Hotelzimmerzahl mehr als verdreifacht, auf 130 526.

KL quillt über von todschicken Einkaufspassagen, die verzweifelt nach Kunden Ausschau halten. Ein gigantischer internationaler Flughafen 70 Kilometer südlich der Hauptstadt ist gerade erst fertiggestellt, wie so vieles eine Nummer zu groß für das 22-Millionen-Einwohner-Land.

Auch 1999 deutet nichts auf ein Ende des Baubooms, selbst samstags abends planieren die Bulldozer in der Nähe der Protestkundgebung alte Häuser ein, kreisen die Kräne. Malaysia steckt in einer tiefen Rezession – und doch werden Autobahnen zu einer neuen High-Tech-Stadt in den Urwald geschlagen; riesige Einkaufspassagen erweitern ihre Kapazitäten, Berjaya Star City um 180 000 Quadratmeter.

Ministerpräsident Mahathir Mohamad, 73, will es so. Der Mann, den sie Dr. M. nennen, hat sich entschlossen, durch eine massive Erhöhung der Staatsausgaben und günstige Kredite an einheimische Großfirmen die Wirtschaft künstlich in Schwung zu halten – andere asiatische Staaten schnallen den Gürtel enger, in KL soll die Party weitergehen.

Der Sonderweg hat einen Preis: Malaysia hat sich seit dem 1. September 1998 von der Weltwirtschaft weitgehend abgeschottet. Dr. M. verhängte Kapitalverkehrskontrollen, um seine Ökonomie vor den Folgen der starken Wechselkursschwankungen zu schützen und Kapitalflucht zu verhindern – er errichtete neben den physischen auch virtuelle Mauern. Der Wechselkurs des Dollar ist fixiert (auf 3,80 Ringgit), und ausländische Anleger sitzen – voraussichtlich zwölf Monate lang – auf Milliarden Dollar fest, die sie in malaysische Aktien investiert haben.

Dr. M. ging auf Kollisionskurs mit dem IWF. Wie in den Nachbarländern hätten auch in Malaysia Vetternwirtschaft, faule Kredite durch unkontrolliert agierende Banken und einen überhitzten Immobilienmarkt den Niedergang ausgelöst, stellten die IWF-Fachleute fest und forderten eine Politik der Liberalisierung und Deregulierung. Von wegen, setzte Premier Mahathir trotzig entgegen, das sei alles Propaganda: Malaysias Grunddaten seien gesund.
Viele der jungen Muslime in der Protestbewegung haben – Jeans hin, Stones her – wegen der selbstherrlichen militärischen „Strafaktionen“ in Afghanistan, Sudan und Irak erhebliche Vorbehalte gegen Washington. Die Rede des US-Vizepräsidenten Al Gore beim Asiatisch-Pazifischen Gipfel Mitte November in Kuala Lumpur („Wir hören die Rufe nach Demokratie im tapferen Volk der Malaysier“) empfanden nicht nur Regierungsvertreter, sondern auch manche malaysische Oppositionelle als kontraproduktive „Einmischung“.

Was die „Reformasi-Boys“ dem Regierungschef aber als unverzeihlich anlasten, sind Pressezensur (von ihren Demos steht nichts in den Zeitungen) – und die staatliche Verfolgung ihres Helden Anwar Ibrahim. Viele halten Anwar-Porträts hoch, als die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengaspatronen nun in der Abendstunde bedrohlich näher rückt.

Anwar, 51, war jahrelang Finanzminister, Vize und designierter Nachfolger des Regierungschefs. Doch am 2. September 1998 feuerte ihn Mahathir aus seinem Amt, 24 Stunden später aus der Umno-Partei; dann ließ er ihn wegen Korruption und „Sodomie“ (so heißt der in Malaysia als Verbrechen geahndete homosexuelle Verkehr) verhaften.

Der Prozeß führt den Malaysiern jetzt täglich vor Augen, wie weit ihr Land davon entfernt ist, ein Rechtsstaat zu sein. Anwar wurde in der Haft geschlagen, sein Gesicht war geschwollen. Ein Polizeioffizier sagte aus, auf Anweisung würde er lügen, auch unter Eid. Ein Chauffeur, den der Angeklagte zum Sex gezwungen haben soll, widerrief sein Geständnis im Kreuzverhör. Dann sollten Spermaflecken auf einer sichergestellten Matratze Verfehlungen beweisen. In der letzten Woche beschloß das Gericht überraschend, vorläufig nur noch die Korruptionsanklage zu verfolgen – was Anwar bloßstellen soll, entlarvt in Wirklichkeit Malaysias autokratisches Regierungssystem.

Die Demonstranten ändern ihre Taktik. „Auf der Straße zeigen wir nur noch formal Präsenz“, sagt einer der bärtigen Reformasi-Boys, „der Kampf wird woanders entschieden – wir schlagen den Hochtechnologie-Fan Mahathir mit seinen eigenen Waffen.“ Er zeigt zum „Zaas Cyber Café“. Seine Anhänger haben Anwar eine eigene Homepage im Internet eingerichtet. Da tauschen die Dissidenten Informationen aus, verabreden Aktionen. Sie versenden auch „subversive“ Gedichte, wie das des malaysischen Dichters Cecil Rajendra über die Angst der Regierenden:

Endlich, um die absolute innere Sicherheit zu gewährleisten, verabschiedeten sie die Notstands- und Verhaltensverordnung für Tiere. Spechte mußten das Hacken ihrer Morsebotschaften von Kokospalmen einstellen. Java-Schwalben wurden scharenweise wegen der Verbreitung von Gerüchten verhaftet. Katzen – der Verschwörung verdächtigt – mußten ab 21 Uhr zu Hause bleiben …
Regierungschef Mahathir verschanzt sich derweil in seinem Regierungspalast, sammelt seine immer noch zahlreichen Parteigetreuen um sich. Der 73jährige mit dem vierfachen Herz-Bypass sucht einen neuen Vize: „Ideal wäre eine Kopie von mir.“ So war Dr. M. schon immer: selbstbewußt bis zur Arroganz, überzeugt, für sich und sein Land die richtigen Visionen zu besitzen. Seine Ära ist die der Staatsgründung, des nationalen Aufbaus.

Obwohl Mahathir seinen Abschluß als Mediziner am europäisch geprägten King-Edward-VII-College in Singapur machte, haßte er von frühester Jugend an die Briten, die die Region beherrschten. Der Sohn kleiner Leute gehörte bald nach der Gründung 1946 zur Umno-Partei, die um die Unabhängigkeit kämpfte; die Umno kam nach dem teilweisen Rückzug der Kolonialherren 1957 an die Macht und hat sie nie verloren.

Mahathir war lange innerhalb seiner Partei umstritten, drei Jahre lang war er sogar ausgeschlossen. Er setzte sich letztlich durch, weil er bereit war, der nationalen Einheit alles unterzuordnen – der Zusammenhalt der einzelnen Volksgruppen war ihm wichtiger als die Einhaltung demokratischer Spielregeln.
Und am Anfang gab es dafür zumindest nachvollziehbare Gründe: Er hatte erlebt, wie es 1969 zu einem blutigen Amoklauf gegen die reichen chinesischen Malaysier gekommen war: Die „Söhne des Gelben Kaisers“, die meisten seit Generationen im Land und fleißige wie begabte Unternehmer, beherrschten bei einem Bevölkerungsanteil von damals 37 Prozent (heute: 26) weite Teile der Wirtschaft (heute: etwa 60 Prozent). Sie zogen Neid und Haß auf sich, ethnische Unruhen drohten den jungen Staat zu zerreißen: „Amok“ ist ein malaiisches Wort.

Um das fragile Gleichgewicht im Völkermosaik wiederherzustellen – neben den Malaien und Chinesen sind mit etwa acht Prozent Bevölkerungsanteil die Inder drittgrößte Gruppe -, gewährte die Umno-Regierung den „Eingeborenen“ Sonderrechte: Die Malaien hießen von 1971 an „Bumiputras – Söhne der Erde“ und wurden beim Landkauf und bei Firmengründungen bevorzugt behandelt. Die anderen Volksgruppen hielten still, weil es mit der Wirtschaft so rapide bergauf ging, daß alle profitierten.

Mahathir, seit 1981 Premier, versuchte die Nation weiter zusammenzuschweißen und ihren Stolz zu wecken. Er fand ein neues Feindbild im „Sittenverfall und in der Dekadenz“ des Westens, den er auch wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast wähnte. Er schwor seine Malaysier auf die „asiatischen“ Werte ein: Disziplin und Fleiß, Lernwille und Leistung, vor allem aber die Bereitschaft zur Unterordnung in der Familie, im Staat.
Eine „gute Regierung“ sollte nach Mahathirs Meinung daran gemessen werden, ob sie Wohlstand und Stabilität für die Bevölkerung bringt, nicht an der Verwirklichung individueller Freiheitsrechte. Islamische Fundamentalisten wie demokratische Kritiker hielt Dr. M. mit dem Internen Sicherheitsgesetz auf Distanz, das Haft ohne gerichtliches Urteil gestattet. Absolute Kontrolle forderte absoluten Einsatz der Nummer eins: Dr. M. rügte die verführerische Auslage von Damenunterwäsche, er verbot die Ausstrahlung von „unislamischen“ Filmen wie Steven Spielbergs „Schindlers Liste“. Und er suchte die Toilettenschüsseln für die Büros der weltrekordhohen Petronas Towers aus.

„Malaysia boleh – Malaysia kann’s“, hieß das stolze Regierungsmotto, basierend auf Mahathirs Vision, das Land bis zum Jahr 2020 zum vollentwickelten Industriestaat zu machen.
Doch einige Malaysier schafften es sehr viel schneller als andere: Dr. M. umgab sich in seinen 17 Dienstjahren als Premier immer mehr mit einem Stab von Jasagern – für Speichellecker existieren in der Umgangssprache heute so viele Synonyme wie im Eskimo-Jargon für Schnee. Korrupte „Vettern“, auch viele Verwandte von Mahathir, machten Millionen: Banken pumpten ihnen gegen Regierungsgarantien, was sie brauchten.

Gigantische Kapitalströme aus dem Westen kurbelten die Wirtschaft zusätzlich an – bis der Wind drehte und Finanziers aus den USA sich 1997 fragten, ob das Fundament der thailändischen und malaysischen Wirtschaft wirklich so gesund sei. Sie setzten gegen den Baht und den Ringgit; die Währungen wie die Börsenwerte verfielen rapide, der Bär hatte die asiatischen Tiger eingeholt.
Mahathir witterte eine „internationale Verschwörung“: Westliche Spekulanten wie der „Schurke“ George Soros hätten vor, die ehemaligen Kolonien wieder zu kolonialisieren; vielleicht gebe es sogar einen „jüdischen Fahrplan“ gegen die Muslime von Malaysia. Anwar sah die Lage differenzierter, sprach von „Schwächen unserer Politik“, wollte marode Banken bankrott gehen lassen. Der Vize, lange Jahre Teil des Kungel-Systems, nun auf Reformkurs, suchte den Machtkampf. Mahathir eröffnete den Schauprozeß gegen seinen 22 Jahre jüngeren Herausforderer, weil er ihn anders nicht mehr ausschalten konnte.
Kurzfristig zumindest haben Malaysias Kapitalkontrollen und die massiv erhöhten Staatsausgaben Vorteile: Die Arbeitslosigkeit ist nicht ins Uferlose gestiegen, Firmenzusammenbrüche halten sich dank neuer Geldspritzen in Grenzen. Die zeitlich limitierte Einschränkung des freien Kapitalflusses könnte also Spielraum geben, um Reformen einzuleiten. Doch Dr. M. wehrt sich gegen frischen Wind – daß seine fiskalischen Tricks die Probleme nur aufschieben, daß eine gigantische Inflationswelle droht, will er nicht wahrhaben. Weil er weiß, daß er Wahlen nur mit geschönten Bilanzen gewinnen kann, greift er – so heißt es in KL – in die staatliche Rentenkasse und treibt die Börse mit massiven Stützungskäufen nach oben.

Als kleines Fenster zum Westen hält Mahathir sich ein teures Beratergremium von der Wall Street: die Finanzprofis von Salomon Smith Barney. Doch gegenüber seinem Volk pflegt er nur rüde nationalistische Töne – US-Vizepräsident Gore wird in der regierungsnahen Presse wegen seiner Malaysia-Kritik „Idiot“ tituliert, „seine Mutter hätte ihn übers Knie legen sollen“.
Wird in KL jetzt die Anwar-Gattin Wan Azizah nach der als sicher geltenden Verurteilung ihres Mannes zur Führerin der Reformbewegung? Schwingt das Pendel nach einem großen Crash gar zur fundamentalistischen Pas-Partei aus, die mit Kopftuchzwang, Alkoholverbot und Geschlechtertrennung beim Sport bisher nur im malaysischen Bundesstaat Kelantan regiert?

Eine Epoche geht zu Ende, und der Repräsentant der alten Garde hat es noch nicht einmal gemerkt. Mahathir hat seinem Malaysia keine Instrumentarien an die Hand gegeben, mit einer Krise fertig zu werden – ohne ihn, den alles steuernden Autokraten. Er hat eine orientierungslose, zwischen Höhenrausch und Katzenjammer schwankende, verunsicherte Nation geschaffen, in der neues Denken von der Mehrheit als bedrohlich empfunden wird.
Sogar die so selbstsicher wirkenden Reformasi-Boys suchen bei den Schamanen nach ihren Wurzeln. Viele pilgern samstags nach der Demo zu den „Bomoh“. Sie glauben den in Trance fallenden, in Trance lallenden Medizinmännern mehr als allen Rezepten des Dr. M.

Die Preise für seine Bananen fielen, die Pacht für Grund und Boden war nicht mehr erschwinglich, und womöglich hätte er sein Land an einen Ausländer verkaufen müssen: Der Bauer Choom Sakhon aus der thailändischen Provinz Prachin Buri nahm sich einen Strick, fuhr nach Bangkok und erhängte sich in der „Stadt der Engel“ – direkt vor dem Sitz der Regierung.
Die Polizei hat ein Sonderteam zur Betreuung Selbstmordgefährdeter eingerichtet. 51 der 100 größten Bauunternehmer Thailands klagten bei einer Befragung des Gesundheitsministeriums über schwere Depressionen. Hunderte mittelständischer Betriebe mußten Bankrott anmelden, die Arbeitslosenzahl verdreifachte sich auf drei Millionen. Ex-Manager verkaufen auf der Straße Sandwiches, ehemalige Bankangestellte verdingen sich als Zeitungsausträger, frühere Sekretärinnen, wie so viele ohne jede Unterstützung auf die Straße gesetzt, betteln in ihrer Verzweiflung Touristen an oder prostituieren sich.
Die brandneuen Wohnblocks der „Golden City“ im Norden Bangkoks stehen leer. Staub wirbelt durch kahle, nie bezogene Fabrikhallen; wie abgebrochene Zähne ragen halbfertige Wolkenkratzer in den Himmel. Aber die Wirtschaftsexperten vom IWF sagen, die Talsohle sei durchschritten – der Staat, in dem im Sommer 1997 die Asienkrise ihren Anfang nahm, habe die besten Chancen, sich als erster zu erholen. „Im Unterschied zu Kuala Lumpur haben wir es in Bangkok eben mit einer Regierung zu tun, die ihre Augen vor den Problemen nicht verschließt“, sagt Jacques Bussieres von der Weltbank.
Verelendung auf dem Land, Verzweiflung in der Stadt, steigende Selbstmordrate – sehen so Sieger aus?

Die makroökonomischen Zahlen, die Thailands Regierung vorlegt, machen Hoffnung: Das riesige Leistungsbilanzdefizit hat sich in einen Überschuß verwandelt; die Regierung ließ 56 marode Finanzhäuser zusammenkrachen. Der Baht stabilisierte sich gegenüber dem Dollar, die Börse fängt an sich zu erholen. Ausländische Geldgeber beginnen sich wieder zu engagieren – Investitionen, die dem isolierten Malaysia entgehen.

„Man hat uns äußerst bittere Medizin verabreicht, wir haben sie geschluckt. Jetzt müssen wir aufpassen, daß es keinen generellen Aufstand gegen die freie Marktwirtschaft gibt“, sagt Kanzleramtsminister Abhisit Vejjajiva in seinem betont schlichten Büro, nur Schreibtisch, Buddha-Statue, Ikea-Stühle. „Unsere Hauptaufgabe ist, die sozialen Folgen der Reformen abzumildern – darüber machen sich internationale Finanzexperten ja leider wenig Gedanken.“ Eton-Zögling Abhisit, Universitätsabschluß in Oxford (Philosophie, Politik und Wirtschaft), früherer Abgeordneter der Demokratischen Partei und mit 34 Jahren jüngstes Kabinettsmitglied, gilt als Thailands Wunderkind. Aber er ist nicht der einzige „New-Age-Politiker“. Bangkoks Politik wird heute von einer jungen Garde brillanter, an westlichen Elite-Universitäten ausgebildeter Fachleute bestimmt.

Der eher farblose, aber als integer geltende Politveteran Chuan Leekpai, 60, war mitten in der schlimmsten Krise November 1997 an die Macht gekommen – der Premier setzte sich sogleich an die Spitze einer stillen Revolution. Er ernannte Vertreter einer neuen Generation wie Buranaj Smutharaks oder Alongkorn Ponlaboot zu seinen Beratern, machte Akrapol Sorasuchart, 38, zum Regierungssprecher; Männer, die nicht mit der alten Thai-Politik der Vetternwirtschaft und Ämterpatronage in Verbindung gebracht werden konnten.

Bangkok war jahrzehntelang berüchtigt für seine korrupten „Staatsdiener“, die sich die Taschen vollstopften. „In Thailand besitzt jeder Politiker eine Bank – und jede Bank zwei Politiker“, hatte der US-Professor und Asienkenner Rudi Dornbusch formuliert. Zu einem Bürgerkrieg war es nur deshalb nicht gekommen, weil das Königshaus eine allseits verehrte Instanz blieb, weil die Nation, die nie kolonisiert wurde, kaum Probleme mit ethnischen Minderheiten kennt. Und weil der rasante Wirtschaftsaufschwung, der das ganze Land erfaßt hatte, jede Empörung abfederte.

Diese Zeiten sind vorbei, der gebeutelte Mittelstand und die verarmten Bauern können die neuen Entbehrungen allenfalls dann ertragen, wenn sie auch in der Politik einen Ruck verspüren. Eine neue Verfassung wurde verabschiedet, die Minister und Abgeordnete verpflichtet, ihr Vermögen offenzulegen; eine Wahlkommission soll den bisher weitverbreiteten Kauf von Stimmen erschweren; eine unabhängige Kontrollbehörde muß Korruptionsbeschwerden nachgehen.

Wieviel Hoffnung sich mit dem Kampf gegen die Korruption verbindet, zeigt der Aufstieg des Polizisten Seri Temiyavej zum heute wohl populärsten Mann in Thailand. Der Unerschrockene ist Gegenstand einer Biographie, Vorbild für eine erfolgreiche Fernsehserie und hat seinen eigenen Fanclub mit mehr als 2000 Mitgliedern. Seri hatte sich als Anwalt der Unterprivilegierten schon in jungen Jahren mit Unterweltbossen und zwielichtigen Politikern angelegt. Ein Kampf nicht ohne Folgen: 1991 explodierte unter seinem Schreibtisch eine Bombe, er kam mit dem Leben davon.

Doch erst seit die neue Regierung im Amt ist, geht es mit seiner Karriere steil aufwärts – Regierungschef Chuan zählt zu seinen Fans. Er machte Seri, 50, zum Boß des thailändischen FBI, dann zum Vizechef der Polizei. Eine der jüngsten Taten des hemdsärmeligen Schurkenjägers: Seri überführte zwei prominente Parlamentarier des Schmuggels und der Bestechung.
Neben dem Kampf gegen die Korruption will Thailands junge Politikergarde die Dezentralisierung, die Meinungsbildung von unten fördern. In mehreren Provinzstädten sind Diskussionsforen entstanden, in denen auch Bauern am Entstehen einer „zivilen Gesellschaft“ mitarbeiten sollen. „Die Herausforderung besteht nicht nur darin, die Wirtschaftskrise zu meistern, wir müssen auch die Grundlagen dafür schaffen, daß wir später unser Wachstum erhalten können“, sagt Minister Abhisit.

Er leitet neben der Arbeitsgruppe „Reform der Bürokratie“ auch die „Nationale Erziehungskommission“. Die Regierung möchte einen Teil der über 17 Milliarden Dollar IWF-Gelder ins Bildungssystem „umleiten“. Wie so viele asiatische Staaten hat auch Thailand in den guten Zeiten versäumt, das Ausbildungswesen zu modernisieren, und nur vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung ausgegeben.
Mit sanftem Druck ist es dem „IWF-Darling Thailand“ („Far Eastern Economic Review“) gelungen, einige der überscharfen Auflagen zu unterlaufen, die amerikanische Experten als Anhänger der reinen neoliberalen Lehre erzwingen wollten. Thai-Banken mit Einlagen der kleinen Leute wurden gerettet; das Defizit der Staatsausgaben hat Bangkoks Regierung wenigstens so weit erhöht, daß einige öffentliche Großaufträge erhalten blieben und die Arbeitslosigkeit nicht noch dramatischer steigt.

Dennoch beginnt sich die Meinung in Thailand, dem „Land der Freien“, zu wandeln. Hatten am Anfang der Krise noch 58 Prozent der Thais befürwortet, daß internationale IWF-Experten in Bangkok mitregieren, sind die „Fremdbestimmer“ heute hochgradig unpopulär. Ein Teil der Presse hat wegen der neuen Investitionsgesetze – Ausländer sollen jetzt auch in Betrieben der Fischerei- und Agrarindustrie Mehrheitsbeteiligungen haben und Land besitzen dürfen – chauvinistische Töne angeschlagen.

Die Senatoren im Oberhaus weigern sich aus anderen Gründen, dem Reformpaket zuzustimmen – bankrotte Unternehmer sollen künftig umfassender für ihre Schulden haften. Einige der größten Pleitiers aber sitzen selbst im Senat. Ohne Kompromisse wird die Thai-Regierung, die sich wie die malaysische im Jahr 2000 zur Wahl stellen muß, ihr Gesetz wohl nicht durchbekommen. Von diesen Maßnahmen aber macht der IWF seine weiteren Auszahlungen abhängig.
Behindern demokratische Spielregeln also schmerzliche Reformschritte, oder sind die aufgezwungenen Rezepte des Westens eher schädlich – Testfall Thailand? Ist endgültig erwiesen, daß „asiatische Werte“ nur der Bereicherung von Eliten dienen und repressive Regime rechtfertigen sollen – Testfall Malaysia?

„Wir kämpfen um die Seele Asiens“, sagt Bangkoks Außenminister Surin Pitsuwan. „Das neue Gesicht unseres Kontinents müssen offene, durchlässige Regierungen, eine freie Wirtschaft und die Pflicht zur Rechenschaft prägen. Wir haben lange genug den Fehler gemacht, Wolkenkratzer-Kulissen für den wahren Fortschritt zu halten. Wenn es uns nicht gelingt, die durch die Arbeitslosigkeit ausgelösten sozialen Probleme zu bewältigen und das Leiden der Menschen zu lindern, werden wir unsere ganze Region ins Chaos stürzen.“
Was hält Harvard-Absolvent Surin, 49, von einer „Auszeit“, wie sie Malaysia in Sachen Weltwirtschaft nimmt? „Wir können uns nicht einfach von der Globalisierung abschotten, sonst riskieren wir, durch die unerfüllten Erwartungen unserer Völker weggespült zu werden.“

Eine Spitze gegen den Glaubensbruder Mahathir im Nachbarland kann sich der Malaie Surin, muslimischer Aufsteiger im buddhistischen Königreich Thailand, dann doch nicht verkneifen: „Wir brauchen überall eine neue Generation von Führern, die bei aller Anerkennung der Erfolge früherer Staatschefs ihre eigenen Wege gehen.“

Von Erich Follath (Der Spiegel)

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