Die Erben der Sintflut

Auf der Insel Phuket, dem Mallorca Asiens, kämpfen die Hoteliers, Barbesitzer und Huren mit den Folgen der Schockwelle. Sie hat nicht nur Tod und Zerstörung gebracht, sondern auch Streit um den Neuanfang: Kommt jetzt der Abschied vom Billigtourismus? Erwin, der übrigens hervorragend kochen kann, Cordon bleu zum Beispiel, mit Käse und Rösti, der dicke Erwin, von Thailands Sonne gebräunt, Zigarren paffend, der eigentlich aus Triengen stammt, im Kanton Luzern – dieser gemütliche Mann sagt ungemütliche Dinge.

Sagt, dass die Flut, die Phuket heimsuchte, nicht nur schrecklich war, sondern auch ihr Gutes hatte. Dass sie einen Sinn hatte, weil sie die Insel von einem Fluch befreite – dem Fluch des Billigen.

Erwin sitzt auf seinem Balkon und preist die Aussicht. Der Balkon geht aufs Meer, nach Südwesten, und er gehört zu Erwins Hotel, und das steht am Kata Beach, einem von der Sonne ausgeleuchteten Strand. Der Himmel ist wolkenlos, wie aus einem Prospekt geschnitten. Eine Brise vom Meer streicht heran, mischt sich jedoch mit dem Geruch von kokelndem Holz, Bauschutt und von Verwesung. Neben seinem Hotel wird noch geräumt, ist noch Katastrophengebiet, die Arbeiter tragen Masken. Allein Erwins Hotel über dem Meer ist unversehrt, denn es verdankt seine Aussicht einem vorgelagerten Felsen, auf dem es thront, vielleicht sechs, sieben Meter hoch.
Und die tödlichen Wellen?

Ja, die. Schwappten unterm Balkon hindurch, Erwin nickt grimmig. Und die dritte Welle kam direkt bis an die Ecke, höher hätte es bitte nicht sein dürfen, Erwin springt auf, deutet. Genau hier, am Holzgeländer, stand er und sah mit seinen Gästen zu, wie die Monsterwellen die Bucht leer räumten. Erwin sah eine Frau, die am Balkon vorbeitrieb, ganz nah war sie plötzlich, rasch also ein Seil gegriffen, ihr zugeworfen, die Frau konnte sich festklammern, rausgezerrt aus der gurgelnden Brühe, Pflaster geholt, einen Cognac geholt, die Frau hörte aber nicht auf zu weinen. Also brachte Erwin einen zweiten Cognac, diesmal einen doppelten, und nahm das Seil und ging wieder auf den Balkon, die Katastrophe betrachten.

Erwin Schwerzmann, 62, Jahre alt, Koch und Hotelier, Wanderjahre in Südamerika, vor einem Jahr kam er hierher. Er brachte seine Ersparnisse mit, eine ramponierte Gitarre, ein Erbstück seiner Mutter, und vor allem seine Frau: Elisabeth, genannt Lissilein, 13 Jahre jünger als er, aber auf der rechten Schulter das gleiche Tattoo wie Erwin – einen Delphin, der durch einen verschwommenen Blumenring springt.

Doch eigentlich will er ja was anderes erzählen.
Hier, er legt die Dezember-Ausgabe der deutschsprachigen Zeitung von Phuket auf den Tisch, ein Blatt für Touristen und Eingewanderte. Er schlägt den Anzeigenteil auf, ein Who’s who der deutschsprachigen Kolonie.
„Dort“, sagt er, drückt den Finger auf die Annoncen, die für Fassbier und für „Futtern wie bei Muttern“ und Grünkohl-Spezialitäten werben, „gehen all die Touristen hin, die sich für wenig Geld voll fressen wollen.“
Tippt auf die „Grillhütte (deutsches Bier und Schnäpse)“ in Patong. „Auch so ein Laden, ist jetzt dicht.“
Oder der „Schweizer Biergarten“. Vom Meer verschluckt.
„Und hier“, er tippt aufs „Coconut“, „da sollte man lieber das Klo nicht benutzen.“ Erwin schüttelt sich. „Viele von diesen billigen Dinger sind jetzt weg, und das ist auch gut so.“ Er klappt die Zeitung zu. „Es ist Zeit für einen Neuanfang.“

Von Neuanfang wird derzeit viel geredet auf Phuket – und nicht nur geredet. In Patong, zu Deutsch: Bananenhain, der zweitgrößten Stadt auf der 543-Quadratkilometer-Insel, entlang der Thawiwong- und der Phra-Barami-Road röhren Bulldozer. Scharen von Bauarbeitern schleppen Steine, die Gesichter vermummt gegen den Staub und das Leichengift. Ein Marinehelikopter landet knatternd auf dem Hof der Kamala-Beach-Schule, Soldaten springen ab, laden Zementmischer aus, und zehn Minuten von hier, auf der Bangla-Road, wischen die Huren noch schnell ihre Bars aus, das „Pussy“, das „Josephine’s“, das „Dragon“.

Es stinkt in diesen Läden, stinkt nach Schlamm und feuchter Kellertreppe. Aber die Lichtreklamen blinken wieder, die Lautsprecher sind trocken, und in manchen Läden stehen wieder die fast nackten Mädchen auf den winzigen Stripteasebühnen und reiben tanzend ihre Unterkörper an den glänzenden Stangen – aber sie tanzen träge, denn sie tanzen vor gespenstisch leeren Barhockern. Die farangs, die Weißen, sind fast alle weg. Vorhin war ein verdruckster Australier da, jetzt zwei Tätowierte aus England, die aber nur vor sich hin glotzen, leben kann man davon nicht.

Dreieinhalb Millionen Urlauber pro Jahr wurden zuletzt gezählt, die Einheimischen kochten ihnen Curry mit Kokosmilch, massierten sie und waren von morgens bis abends freundlich.
Phuket wurde zur zweitreichsten Provinz Thailands, gleich nach Bangkok, Geld wurde mit allem gemacht, was gelangweilte Urlauber amüsierte: mit Elefantenreiten, Rafting, Cliff-Hanging, mit Fellatio, Tauchen, Transvestiten angucken, zu den Riffen tuckern und Walhaie streicheln. Zwei Drittel der Riffe um Phuket, sagen Meeresbiologen, seien inzwischen zerstört.
Das Tourismusministerium rechnet mit Verlusten im thailändischen Fremdenverkehr in Höhe von 579 Millionen Euro allein in den nächsten drei Monaten. Die Bilder der Killerwelle haben dem gestressten Westler das letzte Refugium geraubt, an dem er sich sicher wähnte: den Strand.
„Genau deshalb müssen wir die Welt von uns überzeugen“, sagt Erwin, „und zwar mit Klasse und Qualität.“ Er hat schon mal angefangen und einen Bautrupp ergattert, für den Anbau hinterm Hotel, zwei Doppel-, ein Einzelzimmer, eine Suite. Der Estrich ist trocken, die erste Mauer steht. „Der Mensch ist vergesslich, und wo auf der Welt gibt es so ein ideales Reiseland?“ In spätestens einem Jahr, schätzt er, floriert das Geschäft.

Wer Glück hat und Erfolg, sagen die Buddhisten, der hat es sich verdient in einem seiner vorherigen Leben. Diese Anschauung verträgt sich mit dem Turbokapitalismus, der Thailands Wirtschaft beeindruckende Wachstumsraten von mehr als fünf Prozent bescherte.

Wie Erwin, der kleine Hotelier vom Kata Beach, reden viele Tourismusmanager auf der Insel: Die Schockwelle kann genutzt werden, um die schlimmsten Auswüchse der Boomjahre zu beseitigen. Die Bierbuden und billigen Restaurants an den Stränden sollen nicht wieder aufgebaut werden, die illegalen Resorts geschlossen bleiben. Die Sprecherin der Tourism Authority of Thailand fordert, „das tragische Ereignis zu nutzen, um die Grundstücke an den Stränden neu zu ordnen und eine bessere Umwelt zu schaffen“.

Auf Phuket glaubten sich die Fremden sicher vor den Schrecken dieser Welt. Bis jetzt.

Hinter Phuket, dem Mallorca Asiens, liegen Jahre wilden, ungestörten Wachstums. Wann immer der Tourismus in Asien attackiert wurde – durch islamische Terroristen, durch Bomben auf Bali, durch die Vogelgrippe, durch Sars oder durch den Irak-Krieg -, die Urlauber strömten weiter nach Phuket, weil sie hier den Schrecken der Welt entkommen und sich amüsieren konnten.
Nun sind die Hoteliers der Insel damit beschäftigt, Tote und Vermisste zu zählen und die Schäden an ihren Gebäuden zu taxieren. Von den zehn Buchten, die an der Westküste liegen, der Geldküste, sind die Patong-Bucht und die Kamala-Bucht am schlimmsten betroffen.

In welchen Buchten Mr. Boonchai wie viele Grundstücke besitzt, weiß wahrscheinlich nur er. Aber Verluste, sagt er, habe er keine erlitten.
Mr. Boonchai ist ein kleiner Herr, schlank, Ende 50, teures Hemd, starres Gesicht. Weiße Lederschuhe. Er trinkt Eiswasser und antwortet einsilbig. In seinem Büro stehen ein Computer und zwei riesige Tresore, sonst nichts. Der Pate von Phuket, so nennen ihn manche.
Bitte keine Fotos, sagt Mr. Boonchai.
Mr. Boonchai, von den 33 500 Hotelzimmern auf Phuket sind 17 500 zerstört – wie kam es, dass Sie Glück hatten?
Das Meer ist immer gefährlich. Aber meine Hotels und Grundstücke und Häuser sind gut platziert. Das Meer konnte sie nicht erreichen.
Er trinkt einen Schluck Eiswasser.
Wohin soll sich Phuket entwickeln – jetzt nach der Flut?
Wir müssen schnell alle Schäden beseitigen. Trinkt Eiswasser.
Sind Sie unglücklich, Mr. Boonchai?
Er stutzt. Unglücklich?
Über die Entwicklung der vergangenen Jahre, die Ihre Heimat in einen Vergnügungspark verwandelt hat?
Er räuspert sich. „Es gab dazu nie eine Alternative. Und außerdem – wir Thailänder sind sehr anpassungsfähig. Schauen Sie, wir feiern Weihnachten, Neujahr, dann chinesisches Neujahr im Februar, dann Thai-Neujahr im April, dann Ostern, Halloween, die diversen chinesischen Feiertage, wir sind höflich und offen für alle Religionen und Kulturen – warum sollte man darüber unglücklich sein?“

Was halten Sie von den Überlegungen, jetzt den Billigtourismus zurückzudrängen?
„Interessant. Aber unrealistisch.“ Er trinkt sein Glas aus, stellt es ab. Die Eiswürfel klimpern.
Was gehört Ihnen alles, Mr. Boonchai?
Keine Antwort. Als ob diese Frage nie gestellt wurde.
Boonchai kann es sich leisten, Fragen zu überhören oder seine Besitztümer solange leer stehen zu lassen, bis er glaubt, den richtigen Pächter gefunden zu haben. So war es auch mit dem Hotel von Erwin und seiner Frau. Zehn Jahre stand es leer, Erwin entdeckte es auf einem Spaziergang; ein von wildem Bambus überwuchertes Ding, aber gepflegt und in Top-Lage, hoch über dem Meer. Um sich als Pächter zu empfehlen, brauchte Erwin viel Geduld und all seinen Charme. „Man kommt an Mr. Boonchai nur schwer heran, er ist einer der reichsten Männer auf der Insel“, sagt Erwin. „Wenn du mit ihm verhandelst, darfst du zum Beispiel keine Quittung verlangen, man gibt ihm einfach das Geld, er zählt nach, schiebt es in die Schublade, zack. Eine Verbeugung besiegelt alles.“
Das Wort Rücksicht könnte in der thailändischen Verfassung in einer Präambel stehen. Offen kritisiert zu werden, das Gesicht zu verlieren ist schrecklich. Einen anderen zu kritisieren ist genauso schrecklich. Also muss man jede direkte Konfrontation vermeiden, also besteht der soziale Umgang aus einer Vielzahl von Schlängelbewegungen, wie beim Tempeltanz. Das gilt für Lebende – und erst recht für die Toten.

Verstorbene muss man besonders rücksichtsvoll behandeln, man muss sich mit ihnen gut stellen, ihnen ein Tempelchen bauen, eine Art verziertes Vogelhäuschen, davor ein Schälchen Reis, ein Glas Wasser, ein paar Zigaretten, falls der Geist raucht. Sonst rächen sich die Wesen und kommen ins Haus und spuken. Sie müssen sich auf den Weg machen, ihre Seelen, die Geister, müssen wandern. Und darum muss sich jemand kümmern, jemand wie Samu Djamnung.
Kahl rasierter Schädel. Barfuß, orangefarbenes Gewand, rechts schulterfrei – so ist Samu Djamnung, 40 Jahre alt, der Ober-Mönch von Pak Lok. Man muss vor ihm knien, wenn er betet, und Frauen dürfen ihn keinesfalls berühren. Auch muss man höllisch aufpassen, dass während des Gesprächs die Fußspitzen nicht in seine Richtung weisen, denn Füße sind unrein.
Er schaut an einem vorbei.

Samu Djamnung sitzt auf einem Kissen vor seinem kleinen Tempel, es ist später Nachmittag, drei Kätzchen umschnurren ihn, um ihn herum liegen Dosen mit Whiskas-Katzenfutter, eine Flasche mit heiligem Wasser, ein schnarchender Köter, eine Vase mit Lotusblüten. Samu Djamnung gähnt. Der Tempel liegt im Inland, von der Flut haben Samu Djamnung und die anderen Mönche nichts mitgekriegt; aber die Tage danach waren hart.
Das Kloster Pak Lok liegt an der Landstraße 4027, eine weiträumige Anlage, überall Hunde, Katzen, Hühner. Zwölf Mönche leben hier, in den Tagen nach der Flutkatastrophe waren sie pausenlos unterwegs, um Leichen zu verbrennen, den Toten den zeremoniellen Dienst zu erweisen. Samu Djamnung, der Obermönch, blieb meistens im Kloster und hielt die Stellung; nur im Notfall fuhr er raus. Wie zum Beispiel vorgestern.Am Stadtrand von Patong, an der Ausfallstraße zu Erwin Schwerzmanns Bucht, fanden Arbeiter drei Leichen, verschüttet unter Dachziegeln und den Trümmern einer Wand. Die Körper waren aufgedunsen, der Gestank muss grauenvoll gewesen sein. Trotzdem beschloss der Hausbesitzer, nichts anzurühren, die Körper nicht ohne spirituellen Beistand zu entfernen.

Ein Fahrer fuhr los, nach Pak Lok, eine der ersten Adressen für Geistergeleit.
Samu Djamnung traf zweieinhalb Stunden später ein. Er stellte seine bronzene Buddha-Statue auf, zündete Räucherkerzen an, besprengte den Ort mit heiligem Wasser. Er verbeugte sich vor den Toten, er wickelte eine Schnur an die Buddha-Statue und spannte das andere Ende ins Geäst eines Baumes – jetzt konnten die Geister der Schnur folgen und in den Himmel wandern.
Und dann murmelte er seine Gebetsformel, eine Dreiviertelstunde lang. Alle schwiegen, alle waren erleichtert. Anschließend ließ Samu Djamnung sich bezahlen, zurück zum Kloster nahm er ein Taxi.
Warum hat die Katastrophe sie heimgesucht – diese Frage beschäftigt nicht nur die Buddhisten Thailands, sondern auch die Hindus in Indien, die Katholiken, Hindus, Buddhisten auf Sri Lanka, die Muslime in Indonesien. Eine eindeutige Antwort geben Buddhisten wie Samu Djamnung. Aus Gier und Selbstsucht vergaß der Mensch die Einheit mit der Natur.
Aber auch eine Buddhistin wie Nina, Strandstuhlbesitzerin am Beach von Patong, macht sich wenig Gedanken um ihre Verbindung zur Natur, sie sorgt sich um das Schicksal jener 120 Strandstühle, die ihr gehörten, Stückpreis von 2500 Bath, umgerechnet 50 Euro, alle mit blauer Farbe gekennzeichnet. Und ganz plötzlich, gleich nach der Flutkatastrophe, waren sie fort – und nicht, wie die Stühle ihrer Nachbarn, wieder an den Strand geworfen.
Nina weiß nicht genau, wer ihr die Stühle gestohlen hat; sie hat allerdings einen Verdacht. Aber das nützt ihr wenig, denn zur Polizei kann oder will sie nicht marschieren – in Thailand, sagt sie, geht man nur im allergrößten Notfall zur Polizei, es sei denn, man ist Ausländer oder äußerst reich. Alle anderen müssen sich selbst helfen.

Nina will also heute Abend auf die Bangla-Road gehen, ein paar Auskünfte einholen. Wenn sie Glück hat, kann sie ihren Verdacht erhärten, und wenn sie sehr viel Glück hat, kann sie jemanden auf ihre Seite ziehen, der mächtig genug ist, um die Plündererbande unter Druck zu setzen, damit die Ninas Stühle rausrückt, wodurch allerdings Nina in der Schuld ihres Gönners stünde, ein ewiger Kreislauf.

Nina und ihre Schwägerin haben für die Stühle 300.000 Bath bezahlt, rund 6000 Euro. Vor 26 Jahren war sie, Tochter eines Kleinbauern, nach Patong gekommen, sie kennt das Amüsierviertel noch aus der Zeit, als es aus ein paar Bretterbuden und einer halben Tankstelle bestand. Sie fährt inzwischen einen weißen Geländewagen, hat ein Handy, ist an einem Digitalfotolabor beteiligt.
In den Boomjahren auf Phuket machte Nina alles, was wehtat und Geld brachte: Sie war erst Hure in einer Bar, dann Barbesitzerin, zwischendurch kellnerte sie, verkaufte halluzinogene Pilze an Hippies, jobbte als Fotomodell, gab Schnorchelkurse für Kinder, und jeden Bath legte sie beiseite. Die Vermietung der Strandstühle sollte ihre Altersversorgung sein.

Am 26. Dezember, als das Wasser die Rath-U-Thit-Road entlangschwappte, wollte Nina gerade in ihr Auto steigen, sie war zu einem Weihnachtsfrühstück eingeladen. Sie zog ihre Schuhe aus, kletterte aufs Autodach. Dort saß sie den Rest des Vormittags, zog Leute aus dem Wasser, versuchte zu telefonieren, später kletterte sie an der Hausfassade in ihre Wohnung. Erst am übernächsten Tag kämpfte sie sich zum Strand durch, andere Stühle lagen noch verstreut herum, ihre waren schon weg.

So geht sie die Bangla-Road ab, späht in Restaurants, schaut in Bars, auf der Suche nach dem einen oder anderen einflussreichen Freund. Aber sie hat an diesem Abend kein Glück; dafür wird sie überall von Barmädchen begrüßt, die auf sie zulaufen, die Handflächen aneinander legen, sich strahlend vor Nina verbeugen und sie „Mama“ nennen – ihre ehemalige Lehrmeisterin, die Hure, die den Absprung geschafft hat, das große Vorbild.
Soll sich etwas ändern auf der Insel? Sie denkt kurz nach, zögert und erzählt dann, wie sie Wochen vor der Katastrophe an einem Strandabschnitt vorbeikam, an dem ein Bürgersteig betoniert wurde. Eine Kokospalme, die im Weg stand, war gefällt worden. „Es klingt blöd, aber ich mochte diese Palme, sie war zehn Jahre alt und trug schon Nüsse. Als ich sah, dass sie gefällt worden war, dachte ich: Wenn ich Gott wäre, würde ich diese Insel aus Zorn vernichten … Aber das habe ich nur kurz gedacht. Und es war natürlich nur ein Witz.“ Sie lacht kurz, wird wieder ernst: „Aber wäre ich in meinem Heimatdorf geblieben, dann wäre ich heute eine verschrumpelte Bäuerin. Ich hätte niemals im Leben eine Hautcreme besessen, ich könnte nicht Auto fahren – welche Alternative haben wir?“

Die Sintflut hat die Fassaden von Phuket abgeräumt, die Routine unterbrochen, jetzt stürzen ihre Bewohner in eine Sinnkrise. Die Touristen, von der Monsterwelle aus ihren Liegestühlen gefegt, sind in ihre Heimatländer geflohen, die Leute, die auf der Insel leben, fragen sich nun, ob sie so weiterleben wollen wie bisher. Und als wäre das nicht schon schwierig genug, mischen sich auch noch farangs ein, Ausländer wie John Gray.
In den Bars stinkt es nach Schlamm, aber die Lichtreklamen blinken, und die Striptease-Mädchen tanzen.

Gray wirkt, als wäre er doppelt so groß wie Nina, und wahrscheinlich ist er dreimal so schwer: 1,92 Meter groß, 109 Kilogramm, wenig Fett. Grauer Vollbart, Pferdeschwanz, Hals wie ein Baumstamm, austrainierte Beine. Nächste Woche wird er 60. Er raucht nicht und isst kein Fleisch. Zwei Zehennägel sind schwarz, da ist ihm ein Kanu draufgeknallt, er organisiert Kanutouren auf dem Meer, er hat 20 Boote und 30 Angestellte, eine Tour dauert acht Stunden, Gray paddelt immer mit.
John Gray stammt aus Kalifornien, er war früher Rettungsschwimmer, Rettungstaucher, er diente bei der Navy, er kann surfen, hat Adler ausgewildert und in den siebziger Jahren ein halbes Dutzend Kampagnen zur Rettung wildlebender Tiere angeführt.
John Gray wollte immer die Welt retten. Aber als die Flut kam, hat er versagt.
Er stapft in seinem Büro auf und ab, bleibt plötzlich stehen. „Ich mache mir große Vorwürfe.“

Gray war wahrscheinlich einer der wenigen Menschen auf Phuket, die über Tsunamis mehr wussten als nur den Namen. Von Kalifornien aus war Gray nach Japan gegangen, später nach Hawaii. „Dort hatte es kleinere Tsunamis gegeben, 1960 und 64, und einen relativ großen 1946, bei dem 159 Menschen starben – ich lebte schließlich dort, also hab ich alles darüber gelesen, was mir in die Finger kam.“

An diesem 26. Dezember, gegen Mittag, wollte Gray mit einer Gruppe von 16 Touristen auf Kanutour gehen. Er saß schon um acht Uhr im Büro, Gray hat Weihnachten immer ignoriert, und er steht morgens immer um vier Uhr auf, wann sonst.

„Ich spürte ein Schütteln und Grollen – hey, dachte ich, das war ein Big One, ein heftiges Beben. Ich bat darum, eine Schale mit Wasser in den Raum zu stellen.“
Das Wasser kräuselte sich. Man sah Ringe.
„Die Frage war nun, wo kriege ich eine Bestätigung, und wie viel Zeit haben wir?“
John Gray machte sich an die Arbeit, er wollte die Welt retten.
Er surfte durch australische und amerikanische Erdbeben-Sites, er schrieb Mails, bat um Rat.

An ein Erdbeben-Center in Australien schrieb er: „Hey, Leute, wisst ihr irgendwas über das Sumatra-Beben und einen etwaigen Tsunami? Wenn, dann muss ich es bald erfahren. Wir haben heute ein paar Kajaktouren vor, rund um Phuket, Thailand. Etliche Teilnehmer sind übrigens Aussies.“
Gray hatte eigentlich nur einen Aussie, einen Australier, dabei, aber er dachte, dass ein bisschen Übertreibung nicht schade.
Die Mail ging, laut Grays Protokoll, um genau neun Uhr morgens raus. Da waren es noch eineinhalb Stunden bis zum Aufprall der beiden großen Flutwellen.
Die Antwort kam 24 Minuten später. Sie lautete: „Wir haben einen Hinweis vom Pacific Tsunami Warning Center auf Hawaii bekommen. Die sind der Ansicht, dass für den Pazifik keine Bedrohung existiert. Wie auch immer, sie schließen die Möglichkeit eines Tsunami in der Nähe des Epizentrums nicht aus, also vor der Westküste Nord-Sumatras. Weitere Informationen liegen uns nicht vor, mit freundlichem Gruß.“

Alles blieb offen. Gray war ratlos.
Er rief bei den großen Hotels an, „Ich erklärte, wer ich bin, was ich glaube und dass sie ihre Gäste vom Strand holen sollen – aber ich wurde abgewimmelt, kein einziges Mal wurde ich zum Hoteldirektor durchgestellt“.
Und die Polizei? „Ich hatte daran gedacht“, sagt Gray, „zumal der Onkel meiner Frau hier Polizeichef ist. Aber in Thailand geht man nicht zur Polizei, und ich dachte, was können die schon tun?“

Gray beschloss, wenigstens seine eigenen Leute zu warnen. Die waren bereits auf dem Pier, um die Kanus vorzubereiten. Gray kommandierte seine beiden Fahrer vom Hafen weg und ins Landesinnere. Den Kapitän des Begleitbootes wies er an, sofort aufs offene Meer zu schippern. „Er hielt mich für übergeschnappt, ich musste ihm mit Kündigung drohen, damit er endlich hinausfuhr.“
Da war es 10.12 Uhr. Etwa 20 Minuten später wickelte sich der Tsunami um die Insel und fuhr in die Chalong- und Phuket-Bay. Die Boote im Hafen wurden zerstört. Gray hat 17 Leben gerettet, aber dennoch fühlt er sich, als habe er einen großen Kampf verloren, den Kampf gegen das Meer. Den Kampf gegen die Inselzerstörer will er gewinnen, aber ob die Großgrundbesitzer und Behörden wirklich eine Umkehr und einen Neuanfang wollen, daran hat nicht nur Gray Zweifel.

Misstrauen macht sich breit auf Phuket, weil die staatlichen Stellen verdächtigt werden, selbst bei der Zahl der Toten nicht ehrlich zu sein: 262 Leichen soll das Meer an die Strände gespült haben, die Zahl der Vermissten wird mit 700 angegeben. Zwei- bis dreimal so hoch sei die wirkliche Zahl, schreiben örtliche Zeitungen unter Berufung auf Rettungskräfte, in Phuket müsse letztendlich mit einigen tausend Toten gerechnet werden. Die Wahrheit werde verschwiegen, um den Tourismus schneller wiederzubeleben.

Eigentlich wollte John Gray auf Phuket nur seinen Lebensabend verbringen, entspannt und so oft wie möglich auf dem Wasser. Aber daraus wird wohl nichts, Gray will diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die für die Katastrophe verantwortlich waren, er will für ein Tsunami-Warnsystem kämpfen, für einen neuen, sanften, ökologischen Tourismus. Und das ausgerechnet auf Phuket? „Gerade auf Phuket“, sagt Gray.

Von Ralf Hoppe ( Der Spiegel)

 

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