Die Stunde des Monarchen

Der Monarch saß auf dem Sofa. Ihm zu Füßen kauerten die beiden Männer, die das Königreich Thailand an den Rand einer Katastrophe gebracht hatten:Suchinda , der zum Ministerpräsidenten aufgerückte mächtige General, für das Blutbad in Bangkoks Straßen Anfang voriger Woche verantwortlich, kniete in dunklem Anzug auf dem Teppich und stützte sich schwer auf die linke Hand; Tschamlong, der ehemalige GouverneurAm 17. Mai 1992 demonstrieren in Bangkok über 150.000 Menschen gegen Premierminister Suchinda. Als Protestführer Chamlong Srimuang mit einer Gruppe von 30.000 bis 40.000 Demonstranten vor das Regierungshaus ziehen will, kommt es an der Phan-Fa-Brücke in Bangkok zu den ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Zwischen drei und acht Demonstranten werden von den Ordnungskräften erschossen. Premierminister Suchinda verhängt über Bangkok und Zentral-Thailand das Ausnahmerecht und verbietet politische Zusammenkünfte von mehr als 10 Personen.Am Nachmittag des folgenden Tages gehen Polizei und Militär rabiat gegen die Gruppen von Demonstranten vor, die sich nach dem brutalen Militär- und Polizeieinsatz des Vorabends nicht zerstreut haben. Chamlong Srimuang wird vor laufenden Kameras internationaler Fernseh-Teams verhaftet. Auch unter den Demonstranten macht sich zunehmend Bereitschaft zur Gewalt breit. Steine und Molotow-Cocktails werden geworfen, Barrikaden errichtet. Das Militär antwortet mit Salven aus automatischen Waffen. Eine grosse Zahl von Demonstranten wird erschossen, andere werden halbtot geprügelt. Demonstranten, denen es gelingt, vor den anrückenden Truppen zu fliehen, gruppieren sich in anderen Teilen der Stadt. Vor dem Amt für Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations Department) versammeln sich über 10.000 Demonstranten. Spät am Abend setzen Demonstranten das Amt für Öffentlichkeitsarbeit in Brand. Nach Tagen weiterer Demonstrationen legt Premierminister Suchinda legt am 24. Mai 1992 sein Amt nieder…Bangkoks und Führer der Demokratiebewegung, saß im schlichten blauen Bauernhemd, das zum Symbol seines asketischen Lebens geworden ist, im buddhistischen Lotossitz daneben. Die großspurigen Politiker wirkten wie ungezogene Schuljungen, die eine Strafpredigt des Lehrers über sich ergehen lassen müssen.

Der König sprach feierlich, langsam, mit leiser Stimme: „Das Land gehört nicht nur euch. Es gehört uns allen. Hört auf, euch gegenseitig anzugreifen. Sprecht miteinander, helft euch gegenseitig. Beendet die Gewalttätigkeit.“
20 Minuten lang redete der König auf die Männer ein. Dann standen die also Gescholtenen wortlos vom Fußboden auf und gingen unter Verbeugungen rückwärts zur Tür des königlichen Audienzzimmers hinaus: eine Szene zeremonieller Hofetikette wie aus längst vergangener Zeit. Millionen von Thai wurden Zeugen der ungewöhnlichen Audienz, die in der Nacht zum vergangenen Donnerstag stattfand und von allen Fernsehsendern des Landes übertragen wurde.

Die rituelle Standpauke des Königs wirkte Wunder. Wenig später saßen die Widersacher Suchinda  und Tschamlong nebeneinander an einem Tisch und sprachen via TV zur Nation. Der Premierminister versprach, die Verfassung auf mehr Demokratie hin zu ändern. Der Führer der Opposition forderte seine Anhänger auf, die Straße zu räumen und nach Hause zu gehen.
Innerhalb von Minuten begannen Tausende von Soldaten, die das historische Zentrum Bangkoks zwischen dem Tempel des Smaragdenen Buddhas, der Pagode des Goldenen Bergs und dem chinesischen Viertel besetzt hatten, sich in die Kasernen zurückzuziehen. Die Tausenden von Demonstranten verschwanden im Labyrinth der Gassen und Kanäle der Altstadt. Bei Morgengrauen präsentierte sich Bangkok wieder voll lärmender Vitalität.
Doch die plötzliche Rückkehr zur Normalität vermag die ungeheure Wut und Frustration der Bevölkerung nicht zu verdrängen. „Waren alle Toten umsonst?“ fragte eine Frau weinend in der Ramkhamhaeng-Universität. „Suchinda  ist ein Mörder, und doch bleibt er Premierminister. Wir akzeptieren das nicht. Er muß nicht nur die Regierung, er muß das Land verlassen!“

Niemand in Bangkok spricht öffentlich gegen den König. Fast alle Thai verehren ihren Monarchen so sehr, daß selbst die leiseste Kritik an ihm als ernsthaftes Vergehen gilt. Doch etliche Demonstranten sind verbittert darüber, daß General Suchinda , der offen „Schlächter von Bangkok“ genannt wird, und der charismatische Tschamlong, von vielen mit Mahatma Gandhi verglichen, vom Monarchen als ebenbürtig behandelt worden waren. Manche versuchen es damit zu erklären, daß der König in seinen Entscheidungen nicht frei sei. „Das Militär hat die Gewehre, er hat keine“, sagte ein Demonstrant vor dem Palast.
Das Gerücht, König Bhumibol sei wie ein Gefangener isoliert, war während der Unruhen immer wieder aufgekommen. Alle Straßen, die zum weitläufigen Palastgelände führen, waren mit Stacheldrahtverhauen und Schützenpanzern blockiert. Selbst engste Berater des Königs, hieß es, konnten keinen Kontakt mit dem Monarchen aufnehmen.

Bhumibols Tochter, Prinzessin Sirindhorn, richtete aus Paris einen eindrucksvollen Fernsehappell zur Ruhe an ihre Landsleute. Dabei bemerkte sie, sie habe Schwierigkeiten, mit ihrem Vater telefonisch in Verbindung zu treten. Statt sofort nach Thailand zurückzukehren, sagte die Prinzessin, werde sie ihren Verpflichtungen im Ausland weiter nachgehen. War es eine ihrer Aufgaben, im Namen des Königs vom Ausland her sprechen zu können, weil er selbst daran in Bangkok gehindert wurde?

Das Eingreifen des Königs hat der Hauptstadt erspart, erneut zum Schlachtfeld zu werden. Dabei wäre es nicht nur zu blutigen Kämpfen zwischen unbewaffneten Demonstranten und Soldaten gekommen wie am Anfang voriger Woche, sondern es drohte ein Bruderkrieg innerhalb des Militärs: Wenige Stunden vor der erlösenden Mahnrede des Königs waren im Umkreis von Bangkok Militäreinheiten aus der Provinz eingetroffen, die offenbar gegen den Ministerpräsidenten zu putschen bereit waren.

Suchinda hat sich, seit er an die Macht gekommen ist, verrechnet. Im Februar 1991 hatte er mit seinem Coup d’Etat die demokratisch legitimierte Regierung gestürzt. Dann ließ er die Verfassung umschreiben, bereitete allgemeine Wahlen vor, nach denen er sich, obgleich nicht gewählt, zum Regierungschef ernennen ließ. Immer wieder verkannte der General die Stimmung im Land und unterschätzte die durch den Wirtschaftsboom des letzten Jahrzehnts ausgelösten Veränderungen.

Als die Opposition begann, sich ihm zu widersetzen, spottete Suchinda nur über deren Ohnmacht; als demokratische Politiker wie Tschamlong in einen Hungerstreik traten, um ihn zur Amtsniederlegung zu zwingen, erklärte er, selbst ihr Tod wäre belanglos. Und als Anfang voriger Woche Demonstranten durch die Stadt zogen, meinte er, zuschlagen zu können wie seine schießwütigen burmesischen Kollegen 1988 in Rangun oder wie der Chinese Li Peng im Juni 1989 auf dem Pekinger Tienanmen-Platz: einen friedlichen Protest in einem Blutbad zu ersticken.

Einige der Methoden seiner Leute gleichen tatsächlich denen, die in Rangun und Peking eingesetzt worden sind. Agents provocateurs mischten sich unter die Massen, um Gewalttätigkeit anzuspornen, die eine rigorose Unterdrückung rechtfertigen würde.

Suchinda erklärte, es habe bei allen Straßenschlachten insgesamt 40 Tote gegeben. Unabhängige Beobachter meinen, es seien mindestens 200 gewesen. Soldaten sollen Leichen auf Lastwagen geladen und sie zu einem geheimen Krematorium bei einem buddhistischen Tempel hinter dem Flughafen gefahren haben. Während die Stadtreinigung noch die ausgebrannten Karosserien von Dutzenden von Autos und Bussen abtransportierte, begannen Flugblätter zu zirkulieren, welche die Zahl der Toten auf 8968 setzten. Viele Thai halten das für wahr.

Die Glaubwürdigkeit der Regierung schwand vollends, als Suchinda die Repression damit begründete, die Demonstrationen gehörten zu einer „von Kommunisten gelenkten Konspiration gegen den Staat und die Monarchie“. Dieses Gespenst konnte das Militär vor 20 Jahren heraufbeschwören, aber nicht heute.

Zwar sind die gesellschaftlichen Beziehungen besonders auf dem Land, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt, grundsätzlich feudalistisch geblieben. Aber Thailand ist heute in mancher Weise ein modernes Land und Bangkok eine weltoffene Metropole wie Tokio und New York. Viele Kinder wohlhabender Familien gehen in englischsprachigen Ländern zur Schule.
Suchinda dagegen hat sein Leben innerhalb der Armee verbracht und ist noch in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Männer in Uniform mehr Macht und Prestige genossen als in jedem anderen Beruf.

Thailand, seit 1932 eine konstitutionelle Monarchie, wurde immer schonhauptsächlich von Militärs regiert. Noch jede demokratische Regierung ist durch einen Militärputsch gestürzt worden. 17mal schlugen die Uniformierten in sechs Jahrzehnten zu. 14mal wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt und durch eine neue ersetzt, die sich die jeweils Mächtigen für ihre Bedürfnisse zurechtschnitten.

Suchinda meinte, die Opposition gegen sein Regime bestände, ähnlich wie in der Vergangenheit, hauptsächlich aus Studenten – und sei deshalb politisch belanglos. Er hatte nicht verstanden, daß neben den Studenten diesmal die Massen der neuen städtischen Mittelschicht standen.

Die ursprüngliche Forderung der Demonstranten galt lediglich Sutschindas Rücktritt. Weil Suchinda aber ein „nicht gewählter Premierminister“ war, stand der Ruf nach seiner Demission symbolisch für den Drang der neuen Mittelschicht, das Militär insgesamt aus der Politik davonzujagen, um es durch gewählte Politiker zu ersetzen.

Die Krise betraf nicht einen Mann, sondern ein überlebtes politisches System, das den Erfordernissen des Landes nicht mehr gerecht wurde.
Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hat Thailand einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Das Militär hat sich dabei reichlich bedient: Die Armee hält ihre dirigierende Hand über die Kommunikationsindustrie; die Luftwaffe kontrolliert Fluglinien und Flughäfen; die Marine hat das Monopol auf die Handelshäfen und die Entwicklung der Küste östlich von Bangkok.

Mit wachsendem Wohlstand nahmen die Verteilungskämpfe innerhalb des Militärs zu. Auch ist der Widerspruch deutlich geworden zwischen dem Militär und einem neuen Mittelstand selbstbewußter Manager, die nicht mehr gewillt sind, die Interventionen der Uniformierten in der Geschäfts- und Finanzwelt zu dulden.

Für viele war Sutschindas Verhalten ein Beweis seiner militärischen Arroganz und seiner Unfähigkeit, „die Einstellung des Generals gegen die des Politikers einzutauschen“, wie ein Professor meint. Für andere entlarvte das Blutbad in den Straßen von Bangkok die Illusion, Thailand hätte sich von seiner feudalistischen und autoritären Tradition emanzipiert und wäre zum Vorbild wirtschaftlichen Erfolgs und asiatischer Modernität geworden.

Der erschreckende Anblick von Soldaten, die auf unbewaffnete Demonstranten feuern, das Royal Hotel stürmen, die Menschen über den blutbedeckten Boden kriechen lassen und sie mit Gewehrkolben traktieren – all das wird möglichen Investoren und Touristen im Sinn bleiben, für die Thailand bis jetzt das Land des Lächelns und buddhistischen Friedens gewesen war.
Wer wird für die blutigen Ereignisse zur Rechenschaft gezogen werden? General Kaset, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ist sich sicher: „Das ganze thailändische Volk ist für die Krise verantwortlich.“

In erster Linie aber doch wohl das Militär, das durch den blutigen Montag in Verruf geraten ist. Die einst geachteten Uniformierten sind überall unten durch: „Wir bedienen keine Mörder“, ruft eine Frau drei Soldaten zu, die sich an ihren Nudelstand im Phra-Khanong-Markt setzen wollen. Militärjeeps werden mit Steinen beworfen. Leute spucken Offizieren ins Gesicht, deren Wagen an Verkehrsampeln halten.

„Das war das letzte Hurra der Streitkräfte“, sagte optimistisch ein thailändischer Journalist. „Nach dem Bangkok-Massaker wird das Militär nie wieder seine frühere Rolle in unserer Gesellschaft spielen können.“ Zumindest General Suchinda scheint seinen Part absolviert zu haben: Ihm blieb nur noch der Rücktritt vom Posten des Premiers.Von Tiziano Terzani (Der Spiegel)

Hintergrund:

Am 17. Mai 1992 demonstrieren in Bangkok über 150.000 Menschen gegen Premierminister Suchinda. Als Protestführer Chamlong Srimuang mit einer Gruppe von 30.000 bis 40.000 Demonstranten vor das Regierungshaus ziehen will, kommt es an der Phan-Fa-Brücke in Bangkok zu den ersten blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Zwischen drei und acht Demonstranten werden von den Ordnungskräften erschossen. Premierminister Suchinda verhängt über Bangkok und Zentral-Thailand das Ausnahmerecht und verbietet politische Zusammenkünfte von mehr als 10 Personen.Am Nachmittag des folgenden Tages gehen Polizei und Militär rabiat gegen die Gruppen von Demonstranten vor, die sich nach dem brutalen Militär- und Polizeieinsatz des Vorabends nicht zerstreut haben. Chamlong Srimuang wird vor laufenden Kameras internationaler Fernseh-Teams verhaftet. Auch unter den Demonstranten macht sich zunehmend Bereitschaft zur Gewalt breit. Steine und Molotow-Cocktails werden geworfen, Barrikaden errichtet. Das Militär antwortet mit Salven aus automatischen Waffen. Eine grosse Zahl von Demonstranten wird erschossen, andere werden halbtot geprügelt.

Demonstranten, denen es gelingt, vor den anrückenden Truppen zu fliehen, gruppieren sich in anderen Teilen der Stadt. Vor dem Amt für Öffentlichkeitsarbeit (Public Relations Department) versammeln sich über 10.000 Demonstranten. Spät am Abend setzen Demonstranten das Amt für Öffentlichkeitsarbeit in Brand. Nach Tagen weiterer Demonstrationen legt Premierminister Suchinda legt am 24. Mai 1992 sein Amt nieder…

 

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